Luhmanns Arbeitsweise im elektronischen Zettelkasten

Ich möchte an dieser Stelle einen älteren Beitrag aufgreifen und um aktuelle Ideen zu diesem Thema erweitern. Es geht um ein aktuelles Thema in Bezug auf eine besondere Form des „Wissensmanagements“, wenn man so möchte: Wie funktionierte Luhmanns Arbeitsweise mit dem Zettelkasten und wie könnte eine Softwarelösung im digitalen Zeitalter aussehen?

Die klassischen Methoden der Informationsverwaltung

Die „klassischen“ Methoden der Informationsverwaltung im digitalen Zeitalter basieren wahlweise auf Kategorisierung von Informationen, d.h. die Zuordnung zu vorgegebenen Themenebereichen, oder aber – losgelöst von starren Kategorien – der Verschlagwortung („Tagging“) von Informationen, was eine vom Kategorienschema losgelöste „Unordnung“, aber Vernetzung der Informationen erlaubt. Ergänzt werden kann dies jeweils durch Querverweise auf Einträge untereinander (Prinzip Hyperlinks).

Das „vermeintlich“ Besondere an Luhmanns Arbeitsweise

Da die erstgenannte Methode der Zuordnung von Informationen mit Hilfe von starren Kategorien aus der Mode gekommen zu sein scheint, beziehe ich mich im Folgenden auf die „Tagging“-Methode (wenn ich hier von „Informationen“ spreche, sind damit Einträge, Zettel, Notizen etc. gemeint). Mit Hilfe der Verschlagwortung ist es möglich, ein Beziehungsnetzwerk von Informationen herzustellen und unterschiedliche Informationen vielfach zu vernetzen. Darüber hinaus erlauben Querverweise eine gezielte Vernetzung von Informationen. So entsteht bildlich ein „vermaschtes Netzwerk“.

„FullMeshNetwork“ von Myself – Eigenes Werk. Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons (link)

Nicht bloß die Verschlagwortung, das „Sachregister“, sondern erst die Möglichkeit, manuelle Querverweise zu setzen, wird als wesentliches Prinzip von Luhmanns Arbeitsweise angesehen (siehe z.B. hier und hier).

Das „tatsächlich“ Besondere an Luhmanns Arbeitsweise

Die wesentlichen Merkmale, wie Luhmann seine Zettelkastenstruktur aufgebaut hat, sind innere Verzweigungsfähigkeit, Verweisungsmöglichkeiten und Sachregister („Verschlagwortung“) (siehe dazu auch diesen Beitrag). Jedoch, und das zeigt eine aktuelle Veröffentlichung von Schmidt aus dem Forschungsprojekt zur Erschließung des Nachlasses von Luhmann, ist das Schlagwortverzeichnis („Tagging“) gar nicht so zentral bzw. die Verschlagwortung nicht so intensiv notwendig, als das jeder Zettel verschlagwortet werden müsste. Schlagwörter dienten Luhmann nur als „Einstieg“ in den Zettelkasten, und er hat nur eine begrenzte Zahl von Zetteln in dieses Register aufgenommen (siehe Schmidt S.174).

Auch Querverweise sind, im Vergleich zur Anzahl der Zettel, offenbar nicht grundsätzlich und in einer Form eingesetzt worden, sodass ein „vermaschtes Netzwerk“ entstanden wäre. Zudem war Luhmanns Verweisungsstruktur so angelegt, dass nicht jeder Querverweis ein thematischer „Hyperlink“ auf einen anderen Zettel war, sondern zum Teil auch die Verzweigung von „Gedankengängen“ unterstützte (z.B. im Sinne einer Gliederung, siehe Schmidt S.173f).

Für Luhmanns Arbeitsweise war die Verzweigungsfähigkeit das zentrale Prinzip. Ein Thema, eine Idee, wird linear fortgesetzt. An bestimmten Stellen, wenn ein Thema z.B. einen weiteren interessanten Aspekt beinhaltet, der sich nicht direkt in den aktuellen „Ideenstrang“ integrieren lässt, wird „abgezweigt“. Bspw. können Ausführungen zum Systembegriff über einen Gedankenstrang System-Umwelt-Beziehung oder aber über einen Gedankenstrang Elemente und Relationen weitergeführt werden. Vom Zettel „Systembegriff“ aus ginge es nun auf zwei Pfaden weiter. Es entsteht eine verästelte Struktur aus Zetteln.

„Binärbaum“. Lizenziert unter Gemeinfrei (link)

Ergänzt hat Luhmann dieses Prinzip durch Querverweise. Dadurch entsteht eine Relationierung von Relationen, so Luhmann in seinem Text über Kommunikation mit Zettelkästen, also das (punktuelle) zueinander in Beziehung setzen von Gedankensträngen. Demnach müssten in der Grafik oben noch einzelne „Verbindungslinien“ zwischen einigen Ästen eingezeichnet werden.

Fazit für die eigene Arbeitsweise

Ein Zettelkasten schreibt einem keine Vorgehensweise strikt vor. Man kann sich ausschließlich an Schlagwörter halten, man kann manuelle Querverweise setzen und so weiter. Wer jedoch an Luhmanns Arbeitsweise gefallen findet und diese umzusetzen versuchen möchte, dem würde ich folgendes vorschlagen (Anregungen, Kritik etc. sind in den Kommentaren gerne willkommen!):

  • Wenn ein Gedanke in den Zettelkasten soll, zuerst überlegen, zu welchem Thema er passt. Dann muss dieses Thema gesichtet werden, danach kann ein Zettel eingearbeitet werden – sei es, als neuer „Ausgangszettel“, als Fortführung oder als Abzweigung eines Zettels (so genannte Folgezettel im zettelkasten).
  • Abhängig von der Position des Zettels, also die Stelle, an die er einsortiert wird, muss entschieden werden, ob und wie wichtig die Verschlagwortung ist. Diese ist dann ggf. vorzunehmen.
  • Nicht nur der Gedankenstrang, in den sich ein neuer Zettel einsortiert, sondern auch die anderen „parallelen“ Gedankenstränge müssen gesichtet werden. Hier sind dann bei Bedarf manuelle Querverweise zu setzen.
  • Lieber weniger als zu viel verschlagworten. Relevante „Einstiegszettel“ in ein Thema sowie Zettel an wichtigen „Schnittstellen“ (Abzweigungen) sollten Schlagwörter erhalten. Darüber hinaus ist bei weiteren Zetteln zu überlegen, ob es reicht, dass sie sich in den „Diskussionsstrang“ einfügen und nur so „gefunden“ werden können.

Dieses Zettelkastensystem, diese Ordnungs- und Verzweigungs- und Verweisungsstruktur, wird dann z.B. auf folgende Weise fruchtbar:

“Man fragt sich zum Beispiel, warum einerseits die Museen leer und andererseits die Ausstellungen Monet, Picasso, Medici überlaufen sind; der Zettelkasten nimmt diese Frage an unter dem Gesichtspunkt der Präferenz für Befristetes. (…) Man kann versuchen, die Erfahrungen in Paris, Florenz, New York unter Allgemeinbegriffen wie Kunst oder Ausstellung oder Gedränge (interaktionistisch) oder Masse oder Freiheit oder Bildung zu generalisieren und sehen, ob der Zettelkasten reagiert. Ergiebiger ist es zumeist, nach Problemstellungen zu suchen, die Heterogenes zueinander in Beziehung setzen.” (Luhmann, Kommunikation mit Zettelkästen)

Soweit ich das sehe, ist das Angebot an Programmen, die diese Arbeitsweise unterstützen, eher begrenzt. Ich möchte kurz drei Optionen vorstellen, um Luhmanns Arbeitsweise digital umzusetzen. Eine Möglichkeit besteht darin, seine Zettel als einfache Textdateien zu speichern und sich eine eigene „Auszeichnugssyntax“ für Verweise, Sachregister etc. zu überlegen. Im Zettelkasten ist das Arbeitsprinzip Luhmanns über die Folgezettelfunktion integriert – ohne, dass das Programm einen auf diese Systematik festlegt. Wiki-Systeme wie ConnectedText bilden diese Systematik nicht direkt ab, aber ich vermute, dass mit etwas Aufwand das „vermaschte Netzwerk“ (Navigator bei ConntectedText) theoretisch durch sehr selektive Verweise in ein Verzweigungsbaum umfunktioniert werden kann. Wie elegant dies geht, kann ich jedoch nicht beurteilen.

Als kurzes Fazit bezogen auf Luhmanns Arbeitsprinzip bleibt festzuhalten:

Der Zettelkasten kostet mich mehr Zeit als das Bücherschreiben. (Niklas Luhmann, Shortcuts, S.26)

10 Kommentare zu „Luhmanns Arbeitsweise im elektronischen Zettelkasten

  1. Sehr interessant! Es zeigt sich, dass trotz des eindeutigen Vorteils der offenen Verweisstruktur eines Zettelkastens eine, luhmannisch gesprochen, Reduktion der Verweiskomplexität vorgenommen werden sollte.

    Ich denke, uns mit dem Internet Herangewachsenen (bzw. den digital natives) ist die omnidirektionale Verlinkung von Allem mit Allem zur zweiten Natur geworden ist. Und angesichts des rapiden Wachstums der Verfügbarkeit von Information stellen wir uns die Frage, wie eigentlich zu einer Zeit vor der Computerisierung und dem Internet Forschung in der analogen Welt der angestaubten Bibliotheksarchive und ratternden Schreibmaschinen überhaupt möglich war. Dennoch dürfen wir darüber nicht die fruchtbare Seite der Auswahl, des letztendlich dezisionistischen Weglassens, vergessen. Erst die Strukturierung einzelner Informationspunkte generiert Wissen.

    Wenn Luhmann also vom Zettelkasten als „Alter ego“, als „Kommunikationspartner“ spricht, den man am besten „von vornherein mit Selbständigkeit“ ausstatten sollte, muss man darauf achten, über diese Koketterie mit der Begrifflichkeit einer artifiziellen Intelligenz, eines „Deus *in* machina“, nicht die andere Formulierung, die Luhmann in diesen Zusammenhang ins Spiel bringt, zu übersehen: die des „Aufziehens“.

    Luhmann: „Will man einen Kommunikationspartner **aufziehen**, ist es gut, ihn von vornherein mit **Selbständigkeit** auszustatten.“ (Meine Hervorhebung)

    Habe(n) ich/wir(?) bisher oft zu viel Betonung auf die Seite der „Selbständigkeit“ als die des „Aufziehens“ gelegt?(*)

    (*) Ich kenne den Satz Luhmanns dazu, dass der Begriff der Erziehung anmaßend ist, da ein Kind sich schlussendlich (im Sinne der Autopoiesis) „selbst“ erzieht. Aber auch für unintendierte Folgen ist die ursprüngliche Intention eine Bedingung ihrer Möglichkeit.

    Technischer Anhang:

    Eine mögliche Umsetzung mittels Folgezettel wurde bereits von Daniel dargestellt. Man könnte wohl auch die Schreibtischfunktion dazu nutzen, sich seine eigenen Gedankenstränge durch die Zettel hindurch zu notieren. Eine weitere Möglichkeit wäre es, eigene Überblicks- oder Metazettel zu erstellen, auf denen mittels Zettelverweisen mehrere Einzelzettel in die Struktur eines Gedankenganges gebracht werden könnten.

    Interessant finde ich in diesem Zusammenhang auch die (wenigen) bisher einsehbaren Scans der Originalzettel Luhmanns (http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/toc/ZK_digital/1/). Vielleicht können sie dem ein oder anderen als Anstoß zur eigenen Form der Zettelgestaltung dienen.

    1. Hallo Tom,
      vielen Dank für deinen Beitrag. Ich denke, dass deine Anmerkung des „dezisionistischen Weglassens“ ein wichtiger Punkt hinsichtlich der Arbeit mit Zettelkästen ist – vielleicht sogar grade im digitalen Zeitalter, wo die Informationssammlung angesichts technischer Möglichkeiten schnell „überkomplex“ werden kann (und die Generierung von Ideen zu beliebig).

      1. Hallo Daniel,

        mir leuchtet die Folgezettel-Funktionalität beim Zettelkasten-Programm ein, die Verzweigungen eines Themas ermöglichen und so die Argumentation neben Verweisen zusätzliche Denkwege und Irritierbarkeit ermöglichen. Dennoch ist mir eines nicht klar, da die Arbeit mit dem Zettelkasten ja mit Rückkoppelungen auf frühere Notizen operiert (Vermutlich sehe ich den Wald vor Bäumen nicht, ich bitte mir das nachzusehen). Nehmen wir an, ich bin bis Zettel 385 gekommen und möchte nun Informationen auslagern, also eine Verzweigung mittels Folgezettel anlegen, den ich die Nummer 386 gebe. Was aber, wenn ich, sagen wir, inzwischen bis Zettel 400 gekommen, im nachhinein beim Bearbeiten der Zettel beschließe, Zettel 385 weiter zu verzweigen? Bleibt dann nur, einen neuen Zettel 401 anzulegen, der auf Zettel 385 verweist? Hätte Luhmann dann nicht eine Unterteilung eingesetzt, also etwa 385a oder 385.1 als Folgezettel, und diesen hinter 385 angeordnet?

  2. Beschrieben wird das System ja wie folgt: Es existierend vorgegebene Themengebiete. In diesen kann eine neue Notiz angelegt werden, als neuer „Ausgangszettel“ oder als Fortführung oder Abzweigung eines anderen Zettels. [Ggf. verschlagwortet man den, vor allem beim Ausgangszettel wohl, damit der Themeneinstieg erleichtert wird. Lieber zu wenig als zu viel, eher die Abzweigungen]. Man folgt dem Gedankenstrang und sichtet parallele Gedankenstränge zum gleichen Themengebiet, und erstellt ggf. Querverweise.​ Bei einzelnen Notizen muss man sich überlegen, ob es reicht, dass sie nur im Diskussionsstrang gefunden werden können oder ob sie nochmal hervorgehoben werden sollten.

    Kurzum: Jeder, der eine (moderne) Forensoftware mit Themenschlagwörtern benutzt, arbeitet mit einem Luhmannschem Zettelkastensystem. Dass bei „Offtopic“ vom Gedanken/Themenstrang ein neuer Thread abgezweigt wird, ist ja auch üblich.

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